Unser Interview lässt uns an den persönlichen Erfahrungen einer Erziehungsstellenmutter teilhaben. Im Gespräch berichtet unsere Erziehungsstellenmutter N. über ihre Erfahrungen als Erziehungsstellenfamilie (qualifizierte Pflegefamilie). Gemeinsam sprechen wir über die Herausforderung eines Beziehungsabbruches und die schönsten Momente aus dem Familienalltag. Dazu gibt es noch eine Menge Tipps für angehende Erziehungsstelleneltern.
„Ein schöner Augenblick ist einfach, wenn meine (Erziehungsstellen-)Kinder kommen und sagen „Mami, ich hab´ dich lieb.“ Oder, wenn mein aufgedrehter Erziehungsstellensohn in meinem Arm liegt und dann runterfährt. Das sind für mich sehr, sehr schöne Augenblicke. Ich merke dann, die Kinder sind hier zu Hause.“
Erziehungsstellenmutter N.:
Ich bin 53 Jahre alt und bin eine alleinerziehende Erziehungsstelle – dabei seit mehr als 10 Jahren bei Context e.V. Mein ältestes Pflegekind ist mit 18 Monaten zu mir gekommen und jetzt 21 Jahre alt. Aktuell habe ich zwei Erziehungsstellenkinder bei mir Zuhause – einen 4-jährigen und einen 6-jährigen Jungen. Dazu habe ich noch drei leibliche Kinder, die schon erwachsen sind.
Context e.V.:
Was war ihre Motivation, ein Kind aufzunehmen?
Erziehungsstellenmutter N.:
Eigentlich bin ich dazu gekommen wie die Jungfrau zum Kinde. Damals war ich noch verheiratet. Wir waren im Urlaub, als wir hörten, dass eine Familie, die wir kannten, auseinandergebrochen war und die Kinder in Pflegefamilien untergebracht werden sollten. Unser jüngster Sohn war gerade auf die Welt gekommen und ich sagte zu meinem Mann: „Ach, wären wir mal Zuhause. Dann könnten wir das kleine Mädchen der Familie aufnehmen. Das wäre doch schön – dann hätten wir ein Kleeblatt.“
Als wir dann nach Hause gekommen sind nach dem Urlaub, haben wir gehört, dass die anderen Kinder alle untergebracht waren. Aber dieses kleine Mädchen nicht. Ich habe dann einfach beim Jugendamt nachgefragt, ob das überhaupt geht, sich für ein spezielles Kind zu bewerben und wie das genau ablaufen würde. Die Antwort war natürlich, dass man das nicht kann. Aber wenn wir jetzt schon Interesse hätten… Pflegefamilien würden dringend gesucht. Aber wir wollten damals nur dieses bestimmte kleine Mädchen. Ja, und irgendwie ist es am Ende so gekommen, dass das kleine Mädchen im Oktober 2002 hier eingezogen ist.
Context e.V.:
Das kleine Mädchen sollte aber nicht ihr einziges Pflegekind bzw. Erziehungsstellenkind bleiben.
Erziehungsstellenmutter N.:
Ja, erstmal war alles gut. Ich hatte drei leibliche Kinder und ein Pflegekind. Es war von Seite des Jugendamtes aber auch von meiner Seite absolut kein Thema, dass noch ein Kind einziehen könnte. Alles war gut, so wie es war. Irgendwann wurde es aber ruhiger im Haus. Ich war allein, meine eigenen Kinder waren schon relativ groß. Meine Tochter war bereits ausgezogen, einer meiner Söhne war in den letzten Zügen mit dem Abitur beschäftigt. Und dann saß ich da in meinem Haus und dachte: Und jetzt?
Ich war zu der Zeit keine Pflegefamilie beim Jugendamt mehr, sondern schon Erziehungsstellenfamilie bei Context e.V. Also habe ich meine Fachberatung angerufen und um Unterstützung und Austausch gebeten, weil es sich bei mir gerade so anfühlte, als würde hier alles zusammenbrechen und ich nicht wusste, was ich in Zukunft machen sollte. Sie fragte mich dann: „Was meinen Sie denn, was sie gerne machen möchten?“ Ich sagte: „Ich kann nichts anderes als „Kinder“. Und sie antwortete: „Ja, aber das ist doch genau das, was wichtig ist.“ Und so bin ich dann in die Bereitschaftspflege gegangen.
Context e.V.:
Und haben ihren Weg gefunden.
Erziehungsstellenmutter N.:
Ja, das war ganz einfach. Ich wusste: Das ist meins. Ich liebe das. Innerhalb von ganz kurzer Zeit zog mein jetziges Erziehungsstellenkind hier ein – ein schwerbehinderter Junge, gerade mal fünf Wochen alt. So klein, so süß und so viele Baustellen. Aber das haben wir bis jetzt gut geschafft. Das haben wir gut alles hingekriegt. Er ist einfach toll.
Context e.V.:
Was waren in den letzten Jahren ihre größten Herausforderungen?
Erziehungsstellenmutter N.:
Meine größten Herausforderungen… ich glaube, dass mein Geduldsseil nicht zu dünnen Fäden wird. Auch mit Wutanfällen umzugehen. Ich versuche halt immer in der Ruhe zu bleiben.
Meine größte Herausforderung ist, den Kindern Sicherheit zu geben. Hier können sie blöd sein, hier können sie lieb sein (was natürlich auch sehr schön ist), aber es macht keinen Unterschied. Hier sind sie sicher, hier sind sie zu Hause.
Und dann war da eben auch ein Abbruch. Das hat mich schon sehr emotional herausgefordert.
Aktuell wird das Umfeld/die Menschen für mich manchmal zur Herausforderung. Mein älterer Erziehungsstellensohn sitzt im Rollstuhl und ist sichtbar schwerstbehindert. Viele Erwachsene können damit nicht umgehen. Kinder sind da oft unbefangener. Die sind neugierig: „Boah, guck mal, der hat Leuchträder an seinem Rollstuhl.“ Die Eltern reagieren dann häufig unsicher und ziehen ihre Kinder weg. Das ist für mich ganz herausfordernd. Das ist in der Gesellschaft immer noch nicht angekommen. Ich sehe auch kaum Gleichgesinnte auf der Straße. Die Betroffenen scheinen sich eher zurückzuziehen. Das macht mich traurig.
Context e.V.:
Was war ihre größte Sorge bevor sie Erziehungsstellenmutter wurden und ist diese wahr geworden?
Erziehungsstellenmutter N.:
Meine größte Sorge war es, einen Abbruch erleben zu müssen, weil ich dachte, dass ich das nicht schaffe. Und die Befürchtung eines Abbruches ist wahr geworden, ja. Aber auch das war eine Erfahrung, die sehr wichtig war und mich stark gemacht hat. Es ist eine Erfahrung, die man nicht machen möchte, aber manchmal ist es eben so. Manchmal passt es einfach nicht. Manchmal reicht es nicht, Liebe, Nähe und Geborgenheit geben zu wollen und Grenzen in liebevoller Umgebung zu setzen. Manchmal haben Kinder zu viel erlebt, um Familie ertragen zu können, um diese Enge und Nähe ertragen zu können. Vielleicht ist das Kind, bei dem ich bewusst gesagt habe, dass es hier in unserer Familie nicht funktioniert, in einem wesentlich weiter gesteckten Rahmen glücklich. So glücklich, wie es sein kann.
Das war eine Erfahrung, die ich furchtbar fand, weil ich sehr mit Selbstzweifeln gekämpft habe. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ob ich als Erziehungsstellenmutter wirklich richtig bin, ob ich das überhaupt gut kann. Die Selbstzweifel waren an diesem Punkt sehr, sehr groß. Aber mit der Zeit, als dann der Auszug war und ich die für mich wichtige Trauerphase hatte, konnte ich die Situation wieder reflektieren. Ich konnte dann wieder sehen, dass ich alles gegeben habe, was ich konnte, aber es war für dieses Kind einfach nicht der richtige Rahmen.
Context e.V.:
Was hat ihnen in dieser Zeit geholfen?
Erziehungsstellenmutter N.:
Tatsächlich die Begleitung durch Context e.V. als Träger. Das hat mir sehr geholfen. Erstmal war es für mich wichtig, dass immer jemand da ist, den ich ansprechen kann. Jemand, den ich auch mal anschreien kann und dem ich auch sagen kann, dass jetzt hier alles voll blöd ist und ich möchte, dass das funktioniert. Dann aber auch, einfach mal wieder so ein bisschen ausgerichtet zu werden und Input zu bekommen: Versuchen Sie das mal, lassen sie uns vielleicht mal diesen Weg gehen. Also Lösungswege anzubieten. Es sind jetzt mehr als 10 Jahre und es ist immer jemand da. Selbst wenn ich nachts was hätte, wüsste ich, dass ich jemanden erreichen kann. Das finde ich sehr wichtig.
Ich bin immer, besonders beim Abbruch, begleitet worden – mit vernünftigen Lösungsmöglichkeiten. Das war mir in der Schwere das Wichtigste. Es ist einfach eine anstrengende Situation, wenn man für so ein kleines Würmchen eine Entscheidung treffen muss und sich eigentlich denkt: Ich versuche doch alles und ich mach doch alles. Warum ist es nicht gut? Aber das Kind hatte ein Paket dabei, das eine andere Lösung brauchte. Das musste ich auch erst mal erkennen: Ich habe das Paket nicht verursacht. Ich bin für die Problematik, die da ist, nicht verantwortlich. Das war ein schwerer Prozess.
Context e.V.:
Und trotzdem haben Sie nach dem Abbruch weitergemacht.
Erziehungsstellenmutter N.:
Ja. Ja, ich mache immer noch weiter. Ich glaube, bzw. hoffe, dass ich das noch ganz lange machen kann.
Der Abbruch war keine leichte Erfahrung, aber sie war sehr wichtig und hat mich, glaube ich, auch ziemlich stark gemacht. Und es heißt ja nicht, weil es bei dem einen Kind nicht klappt, dass es bei einem anderen Kind nicht funktioniert.
Context e.V.:
Was sind die schönsten Momente als Erziehungsstellenmutter, an die Sie sich erinnern?
Erziehungsstellenmutter N.:
Einer meiner schönsten Augenblicke war, als meine jetzt ja schon erwachsene Erziehungsstellentochter zu mir sagte: „Mama. Du bist meine Mama. Vor dir habe ich sehr viel Respekt. Aber nicht aus Angst, sondern weil ich weiß, dass du mich liebst.“
Ich habe ihr immer gesagt, wenn irgendjemand kommt und dich wegholen will, dann nehme ich dich und wir gehen auf eine einsame Insel. Ich wusste als Erwachsene natürlich, dass ich nie auf eine einsame Insel gehen kann. Die Möglichkeit besteht nicht. Aber für sie war das so wichtig. Das sagt sie heute noch: „Mama, du wärst mit mir auf die einsame Insel gegangen, damit ich bei dir bleiben kann.“ Das ist halt schön.
Ja. Ein schöner Augenblick ist einfach, wenn meine (Erziehungsstellen-)Kinder kommen und sagen „Mami, ich hab´ dich lieb.“ Oder, wenn mein unruhiger, aufgedrehter Erziehungsstellensohn in meinem Arm liegt und dann runterfährt. Das sind für mich sehr, sehr schöne Augenblicke. Ich merke dann, die Kinder sind hier zu Hause. Das ist schön. Sehr schön.
Context e.V.:
Haben Sie, aus ihrer Erfahrung heraus, Tipps für zukünftige Erziehungsstelleneltern?
Erziehungsstellenmutter N.:
Wer mit dem Gedanken spielt, ein Pflege- oder Erziehungsstellenkind aufzunehmen, sollte sich vorab gut informieren und entsprechende Schulungen mitmachen. Das finde ich gut.
Man sollte an die Sache auch nicht mit zu viel Perfektionismus dran gehen und die Situation einfach auf sich zukommen lassen. Und jeden schönen Augenblick genießen. Auch in der Anbahnung, wo man sich vielleicht gestresst fühlt, weil man öfter mal weite Strecken fahren muss. In der Phase ist es auch wirklich wichtig, auf den Bauch zu hören. Ich glaube, gut in sich reinzuhören kann Schwierigkeiten im Vorfeld begrenzen.
Bei einem meiner Erziehungsstellenkinder war es so, dass ich von weitem gesehen habe, wie er einen Weg runter gelaufen kam. Dabei hatte er einen riesengroßen Hund neben sich. Die Leine hing durch und er lief wie ein kleiner Träumer mit diesem großen Hund die Straße entlang. Da habe ich mich schon in ihn verliebt. Mein Bauch sagte eindeutig ja. Das Bild habe ich ganz tief in meinem Herzen und immer, wenn es mal holprig ist, hole ich mir das ein bisschen hoch.
Context e.V.:
Möchten Sie Interessierten noch etwas mit auf den Weg geben?
Erziehungsstellenmutter N.:
Es ist auf jeden Fall ganz wichtig, dass man ehrlich zu sich selbst ist und auch nein sagt, wenn es sich nicht richtig anfühlt. Manchmal kann man ein Kind zum Beispiel sprichwörtlich nicht riechen.
Manchmal sollte man sich aber auch überraschen lassen. Wenn mich jemand in einer anderen Situation gefragt hätte, ob ich ein 5 Wochen altes schwer behindertes Baby aufnehmen möchte, hätte ich vielleicht nein gesagt. Aber ich habe mich auf das Abenteuer eingelassen und es ist etwas Schönes passiert.
Mit den leiblichen Eltern würde ich versuchen, gut zurecht zu kommen. Eine Freundschaft wird sich nicht entwickeln. Aber gut zu kommunizieren hilft. Auch, dass man nicht schlecht über die Eltern spricht, um das Kind nicht in einen Zwiespalt zu bringen.
Context e.V.:
Sie haben auch leibliche Kinder. Fühlt sich das Zusammenleben mit einem Pflege- oder Erziehungsstellenkind anders an? Gleicht es sich irgendwann an?
Erziehungsstellenmutter N.:
Das kommt ganz darauf an. Also, ich habe sechs Kinder. Drei leibliche Kinder und drei Erziehungsstellenkinder. Für mich sind es alle meine Kinder. Bei den beiden kleinen Erziehungsstellenkindern ging es schnell. Bei meiner Pflegetochter hat es etwas länger gedauert, was an den damaligen äußeren Umständen lag. Ich muss das Kind riechen können. Das ist schon eine gute Voraussetzung dafür, dass es gut wird.
Ich glaube, die Einstellung ist wichtig. Einfach zu sagen, das Kind lebt jetzt hier bei mir. Es ist ein Teil meiner Familie. Ob es passt oder nicht, wird sich herausstellen. Aber das, was ich dem Kind geben kann, das nimmt es mit, egal, wie sein Weg sein wird oder wo es am Ende verbleibt. Ob es zu den leiblichen Eltern zurück geht, zu einer anderen Pflege- oder Erziehungsstellenfamilie oder in eine Einrichtung kommt. Das, was ich gepackt und mitgeben habe, hat es sicher. Und irgendwann packt es das vielleicht aus und daraus kann etwas wachsen.
Context e.V.:
Hat die Aufnahme eines Kindes das Leben ihrer Familie verändert?
Erziehungsstellenmutter N.:
Ja, zwischendurch ging es auch mal hoch her. Ich glaube, es gibt keine Familie ohne Diskussionen. Es waren eben auch immer Kinder im Haus, immer jemand in der Pubertät. Hier ist einfach Familie, hier ist immer Action. Nach dem ganzen Trubel und der Unruhe hätte ich das nie gedacht, dass Erziehungsstellenkinder fast schon zur Familientradition werden. Bei meinen Jungen nicht. Aber meine große Tochter ist auch Erziehungsstelle und die Kleine möchte das ebenfalls werden.
Context e.V.:
Dann hat die Entscheidung, ein Kind aufzunehmen ihr Leben im Nachhinein bereichert?
Erziehungsstellenmutter N.:
Ja, auf jeden Fall. Sehr, sehr, sehr, sehr gut und positiv.
Sie können sich vorstellen auch eine Erziehungsstellenfamilie zu werden? Mehr über den Weg zur Erziehungsstelle erfahren Sie hier.
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21. August 2024
13. August 2024