Im Gespräch berichtet unsere Erziehungsstelle P. über ihre ganz persönlichen Erfahrungen als Erziehungsstellenfamilie (qualifizierte Pflegefamilie). Ein Interview über Herausforderungen und Besuchskontakte, über den Kontakt zur Herkunftsfamilie ihrer Erziehungsstellenkinder und über Glücksmomente im Familienalltag.
„Ich bin froh, dass wir uns entschieden haben eine Erziehungsstellenfamilie zu werden. Ich könnte mir die Kinder nicht mehr wegdenken. Du verschenkst dein Herz.“
Context e.V.:
Liebe Familie P. Sie berichten uns heute über Ihre Erfahrungen als Erziehungsstelle. Stellen Sie sich doch gerne einmal kurz vor.
Erziehungsstellenmutter P.:
Wir sind verheiratet und leben in einer Patchwork-Familie. Ich habe zwei leibliche Kinder und mein Mann hat ein leibliches Kind – alle sind schon erwachsen. Dazu haben wir zwei Erziehungsstellenkinder. Unsere Erziehungsstellenkinder sind 14 und 7 Jahre alt. Der Große kam mit viereinhalb Jahren zu uns. Neuester Familienzuwachs ist unser 17 Monate alter Hund.
Context e.V.:
Eine bunte Familie. Hier ist immer was los, oder?
Erziehungsstellenmutter P.:
Ja klar, hier ist immer Trubel. Das ist schön. Und es funktioniert – jetzt schon seit über 10 Jahren.
Context e.V.:
Was waren Ihre Beweggründe, eine Erziehungsstellenfamilie (qualifizierte Pflegefamilie) zu werden?
Erziehungsstellenmutter P.:
Wir sind selbst zu Hause vier Kinder gewesen. Drei Mädchen und ein Junge und jedes Kind hatte sein Steckenpferd. Eine meiner Schwestern hatte ihr Herz immer schon an Hunde verloren. Meine jüngste Schwester hatte immer Pferde und bei mir standen immer die Kinder an erster Stelle. Und dann waren meine Kinder irgendwann groß und aus dem Haus und ich dachte: Was machst du jetzt, wenn du deine Kinder nicht mehr zu Hause hast?
Zwischendurch war ich auch mal alleinerziehend und habe in meinem Umfeld und durch meine eigenen Kinder Erfahrungen gesammelt und auch viele andere alleinerziehende Mütter, Familienkonstellationen und -geschichten kennengelernt. Für mich stand es irgendwie fest, dass ich das Wissen irgendwo anwenden muss. So viel Erfahrung und Bauchgefühl kann man nicht einfach in die Schublade packen und zumachen. Das war für mich die Motivation anderen Kindern ein Zuhause zu geben.
Erziehungsstellenvater P.:
Und dann haben wir uns darüber unterhalten. „Butter bei die Fische“, wie man so schön sagt. Wir sind dann irgendwann zusammengezogen. Und dann hat meine Frau gesagt: Wir probieren das jetzt.
Erziehungsstellenmutter P.:
Dann haben wir uns an Context gewandt, was ich auch immer wieder tun würde. Und dann haben wir unseren ersten Pflegesohn bekommen – als Bereitschaftspflege, weil die Option bestand, dass er, wenn zu Hause alles in Ordnung käme, wieder zurückgehen könnte. Er blieb dann aber doch und die Maßnahme wurde in eine Dauerpflege-Erziehungsstelle umgewandelt, aber erst nach drei Jahren.
Context e.V.:
Was war bisher Ihre größte Herausforderung in Ihrer Zeit als Erziehungsstellenfamilie (qualifizierte Pflegefamilie)?
Erziehungsstellenvater P.:
Als der Kleine vor sieben Jahren kam. Erstmal haben wir drei Nächte darüber diskutiert. Er war erst zwei Tage alt, als wir angerufen wurden. Da fängt man wieder ganz von vorne an. Im Krankenhaus war er an Monitore angeschlossen und überall hingen Kabel. Mit fünf Tagen ist er dann zu uns gekommen. Ich bin froh, dass wir uns so entschieden und das gemacht haben. Ich könnte ihn mir nicht mehr wegdenken. Du verschenkst dein Herz.
Erziehungsstellenmutter P.:
Meine größte Herausforderung ist es, nicht zu wissen, ob die Option besteht, dass die Kinder wieder gehen. Genau, wie mein Mann sagt – du verschenkst dein Herz. Darüber muss man sich von Anfang an im Klaren sein. Das ist keine Entscheidung für ein paar Wochen oder ein halbes Jahr. Vielleicht, wenn man Bereitschaftspflege macht. Ich finde, dann muss man mit sich schon ganz im Reinen sein, wenn man von Anfang an weiß, dass das Kind kommt und auch wieder geht.
Das ist bei den Langzeitpflege-Erziehungsstellen nicht so. Das ist langfristig ausgelegt. Das ist für mich persönlich besser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Beiden wieder gehen. Dein Herz sagt, dass das irgendwie auch deine Kinder sind. Und das ist ja auch Sinn und Zweck der Übung. Dass die Kinder das Gefühl haben, sie sind hier zu Hause und können hier ankommen. Vor allem, dass sie hier ein sicheres Zuhause haben. Das ist ein ganz großer Punkt. Und dafür muss man sich hundertprozentig darauf einlassen. Kinder merken, wenn das nicht so ist.
Context e.V.:
Die meisten unserer Erziehungsstelleneltern haben wenig Kontakt zu den leiblichen Eltern. Besuchskontakte werden von unseren Fachberatungen begleitet. Bei ihnen ist das teilweise anders. Warum?
Erziehungsstellenmutter P.:
Die Mutter unseres älteren Erziehungsstellenkindes kennen wir schon aus der stationären Einrichtung, in der er untergebracht war, bevor er zu uns kam. Und er kannte sie auch. Sie hat ihn dort besucht. Die Zusammenarbeit mit ihr ist gut. Da ist irgendwie ein Vertrauensverhältnis entstanden. Sie war auch schon mit hier. Manchmal verbringen die zwei auch alleine Zeit miteinander. Aber dauerhaft oder über einen längeren Zeitraum schafft sie es nicht, sich um ihn zu kümmern und ist froh, dass er bei uns aufwachsen kann. Das hat sie ihm auch gesagt. Sie hat ihm quasi erlaubt, noch eine andere Familie zu haben. Ich finde es gut, dass sie das gemacht hat. Sie erklärt ihm, wo sie an ihre Grenzen kommt, damit er in Ruhe hier bei uns ankommen kann. Wir arbeiten mit beiden Mamas daran, ihm zu zeigen, dass es ok ist, dass er hier ist. Das hat bisher super funktioniert. Wir telefonieren auch und tauschen uns aus. Ich weiß, dass so ein guter Kontakt nicht die Regel ist.
Bei unserem jüngeren Erziehungsstellenkind war es so, dass wir die Besuchskontakte von Anfang an begleitet haben. Er war ja noch ein Baby und zu klein, um ohne seine feste Bezugsperson, einen Termin wahrzunehmen. So sind wir auch da in Kontakt mit der Herkunftsfamilie gekommen.
Erziehungsstellenvater P.:
Der Kleine hat das auch von Anfang an von uns so gelernt, dass er eine Bauchmama und eine Herzensmama hat. Er kennt das nicht anders. Der Kontakt zur leiblichen Mutter ist aber ganz anders – nicht so eng oder regelmäßig, wie bei unserem Großen.
Context e.V.:
Was ist ihnen im Umgang mit der Herkunftsfamilie wichtig und welche Erfahrungen können Sie mit uns teilen?
Erziehungsstellenmutter P.:
Ich versuche immer, den leiblichen Eltern offen gegenüberzutreten und in Kontakt zu kommen. Auch, wenn zum Beispiel ein Besuchskontakt durch die Eltern abgesagt wird oder nicht gut verläuft, fangen wir das zu Hause auf. Da muss man seine eigenen Gefühle zurückstellen und einfach für das Kind da sein. Ich unterstütze die Mütter unserer Erziehungsstellenkinder aber auch dabei, selbst auf die Kinder zuzugehen und ziehe mich dann zurück, damit sie Zeit für sich haben. Die Situation ist so, wie sie ist. Ich habe sie nicht gemacht. Aber die Eltern sollen merken, dass wir mit ihnen für das Wohl der Kinder zusammenarbeiten.
Für unsere Kinder ist es gut, zu wissen, woher sie kommen. Ich glaube, irgendwann würden sie sonst anfangen zu fragen und zu suchen. Aber an erster Stelle ist mir wichtig, dass es den Kindern damit gut geht. Wenn es den Kindern guttut, geht es mir auch gut. So leben wir das auch.
Context e.V.:
Geht der Kontakt auch über die leiblichen Eltern hinaus?
Erziehungsstellenmutter P.:
Ja, wir haben zum Beispiel Kontakt zum zuständigen Jugendamt und den Erziehungsstelleneltern einer Schwester unseres jüngeren Kindes. Da wollen wir im Sommer ein Treffen in Angriff nehmen. Die zwei haben sich noch nie gesehen. Bevor unser Junge das auf anderem Wege von Oma, Opa, Papa, Mama erfährt, wollen wir das lieber von hier steuern, wo er einen sicheren Hafen hat. Wo er wieder einlaufen kann, wenn es mal nicht so abläuft, wie er sich das vorstellt. Wir werden zuerst die anderen Erziehungsstelleneltern treffen und besprechen, wie ein Kennenlernen ablaufen kann. Und dann die Kinder darauf vorbereiten und langsam aufeinander zugehen. Der Weg ist also geebnet, aber unser Sohn kann selbst entscheiden, wie weit er ihn laufen will. Wenn er dann sagt, dass es nicht passt und er keine Beziehung aufbauen kann, dann ist das auch ok. Aber er weiß dann, dass ihm alle Türen offenstehen, wenn er später nochmal danach fragt.
Context e.V.:
Was war was waren ihre schönsten Augenblicke als Erziehungsstellenfamilie (qualifizierte Pflegefamilie)? Fällt ihnen dazu spontan etwas ein?
Erziehungsstellenmutter P.:
Ja, das war, als eigentlich noch gar nichts feststand, ganz am Anfang – in der Anbahnungsphase mit unserem großen Erziehungsstellenkind. Er war zu der Zeit in einem stationären Kinderheim. Wir haben ihn da abgeholt und sind in den Tierpark gefahren. Und dann habe ich ihn mir irgendwann geschnappt und gesagt, dass er jetzt mal auf Toilette gehen muss und bin mit ihm gegangen und habe ihm geholfen. Als wir ihn nach dem Ausflug zurückbrachten, sagte mir die Erzieherin, dass ich die Erste war, mit der er einfach so mitgegangen ist. Selbst für neue Erzieherinnen ist es schwer, bis er so viel Vertrauen fasst.
Erziehungsstellenvater P.:
(lachend) Weißt du noch, wie er dir auf den Arm gesprungen ist? Als ich das erste Mal dabei war, ist er meiner Frau, aus Reflex, auf den Arm gesprungen und hat gefragt, ob ich immer so böse bin. Dabei habe ich nur von Natur aus eine tiefe Stimme. Sie sagte ihm, dass ich gar nicht böse bin und immer so spreche. Dann war es schnell ok. Aber das sind Momente, die vergisst man einfach nicht.
Ja, das war schon schön. 10 Jahre ist das jetzt her. Das kann doch gar nicht sein. Wenn er heute gute Noten in der Schule schreibt, kommt er immer zu mir und zeigt mir die Arbeiten. Ich finde das klasse. Das macht mich schon stolz.
Context e.V.:
Haben sie noch andere Erinnerungen an die Anbahnungsphase?
Erziehungsstellenmutter P.:
Das kennen wir ja nur von unserem älteren Erziehungsstellenkind. Als er zum ersten Hausbesuch bei uns war, wurde uns vorher von den Betreuenden gesagt, wir sollten ihn nicht mehr zum Mittagsschlaf hinlegen. Das war aber wohl doch zu aufregend für ihn. Er ist nach einiger Zeit wortwörtlich im Stehen eingeschlafen und wir haben ihn ins Bett gelegt. Dann hat er fast drei Stunden Mittagsschlaf gemacht – so hat ihn das beansprucht. Dann war er abends, als wir ihn zurückgebracht haben, natürlich fit wie ein Turnschuh. Als wir ihn dann zum dritten Besuch abholen wollten, standen seine Taschen schon fertig gepackt im Zimmer. Er wollte nicht mehr dableiben und hatte geweint, als wir beim letzten Mal weggefahren waren. Er hat sich wohl einfach vom ersten Moment an Zuhause gefühlt bei uns. Dann war es also kein dritter Besuch mehr, sondern er ist an dem Tag bei uns eingezogen. Da war er viereinhalb Jahre alt.
Context e.V.:
Sie haben in den letzten 10 Jahren viele Erfahrungen als Erziehungsstelle gesammelt. Haben sie Tipps für zukünftige Erziehungsstelleneltern?
Erziehungsstellenvater P.:
Einfach ganz normal bleiben. Bei sich bleiben und echt sein. Und man muss so weit sein, die Erziehungsstellenkinder als seine Kinder anzunehmen. Kinder merken, wenn es nicht so ist.
Erziehungsstellenmutter P.:
Eine Herausforderung sind natürlich die Besuchskontakte. Besonders, wenn die Kinder noch so klein sind und sie nicht loslassen von den Erziehungsstelleneltern. Gerade unser Jüngster ist sehr auf mich fixiert. Das ist eine Situation, die für die leiblichen Eltern ganz schön komisch sein kann. Das kann alle möglichen Gefühle auslösen – je nachdem, wie die Eltern damit umgehen. Darauf sollte man vorbereitet sein. Ich versuche auf die Eltern zuzugehen und ihnen Tipps zu geben, wie sie einen besseren Zugang zum Kind finden. Gleichzeitig gebe ich unserem Kind Sicherheit und bedränge ihn nicht. Ich kenne ihn ja und weiß, dass er länger braucht zum Warmwerden. Er entscheidet, was er möchte. Das ist ein Weg, der zu uns und zur Vorgeschichte unserer Kinder passt.
Context e.V.:
Hat die Entscheidung als Erziehungsstelle fremde Kinder aufzunehmen ihr Leben bereichert? Wie sind ihre persönlichen Erfahrungen?
Erziehungsstellenvater P.:
Ja, auf jeden Fall – auch wenn es nicht immer einfach ist. Aber das ist es mit den eigenen Kindern ja auch nicht. Da hat man genau die gleichen Probleme. Für uns sind alle unsere Kinder gleich – egal ob leibliche oder Erziehungsstellenkinder. Ansonsten würde das Ganze für uns keinen Sinn machen.
Context e.V.:
Gibt es etwas, worauf sie besonders stolz sind?
Erziehungsstellenmutter P.:
Ja, dass unsere Erziehungsstellenkinder offen und ehrlich sind und mit allem zu uns kommen. Das sehe ich, aufgrund der Päckchen, die die Kinder tragen, nicht als selbstverständlich an. Das ist für mich ein Zeichen, dass die Kinder angekommen sind und uns als ihr Zuhause empfinden. Ob etwas in der Schule oder im Kindergarten vorgefallen ist mit Freunden oder ob der Busfahrer, so wie heute, mit ihnen gemeckert hat, weil sie sich im Bus nicht gut benommen haben – sie kommen mit allem zu uns. Das, finde ich, ist Vertrauen. Das zeigt mir, dass wir bis jetzt eigentlich alles richtig gemacht haben.
Context e.V.:
Das ist ein wunderbares Schlusswort. Herzlichen Dank für das Gespräch und ihre Offenheit.
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