Liebe Lesende,
erst gestern habe ich eine Serie auf Netflix geschaut. Klischeehaft ging es grob darum, dass eine Frau den Partner fürs Leben sucht und sich mit allen möglichen Personen datet, obwohl der Richtige schon längst in ihrem Umfeld aufgetaucht war. Ich glaube, dass beide sich am Ende auch glücklich gefunden haben. Erschreckend daran fand ich jedoch die Nebenhandlung: Die beste Freundin der Protagonistin war schwanger. Um die Neuigkeit zu feiern, tranken alle gemeinsam erst einmal ein schönes Glas Sekt – oder auch zwei. Und damit endete die Serie für mich – und ich erzähle Ihnen von Luca.
Diagnose ICD10 Q86.0G – „Unser Erziehungsstellenkind ist behindert.“
Wenn der Fall eintritt, dass die werdende Mutter während der Schwangerschaft Alkohol konsumiert, dann besteht ein hohes Risiko, dass sie ein behindertes Kind zur Welt bringt: Fetale Alkohol-Spektrum-Störung lautet die entsprechende Diagnose, bzw. Fetal Alcohol Spectrum Disorders – kurz FASD. Dies ist eine der häufigsten angeborenen Behinderungen in Deutschland. Nach Schätzungen kommen hier jährlich ca. 10.000 Kinder auf die Welt, die unter einer Form von FASD leiden.
FAS, das fetale Alkoholsyndrom, ist die ausgeprägteste Form in dieser Spektrum-Störung und wird durch häufigen mütterlichen Alkoholkonsum während der Schwangerschaft ausgelöst. Und darauf treffen wir als Fachberatungen für Erziehungsstellenkinder und Pflegekinder vermehrt in unserem Alltag.
Ein kurzer Einblick: Da Alkohol ein Zellteilungsgift ist und das ungeborene Kind während der Schwangerschaft unweigerlich ebenfalls den von der Mutter getrunkenen Alkohol konsumiert, wirkt sich dieses Gift schädigend auf die sich bildenden Organe aus. Insbesondere das empfindliche Gehirn und das Nervensystem sind davon betroffen und werden in ihrer Bildung und Entwicklung gestört.
Unser Erziehungsstellenkind Luca hat FAS. Er ist zu klein für sein Alter, zierlich. Sein Kopf ist ungewöhnlich klein und sein Gesicht zeigt typische Auffälligkeiten, die Fachleute sofort als Indiz für ein FAS (Fetales Alkoholsyndrom) erkennen.
Luca wurde in Obhut genommen, als er ein Jahr alt war. Seitdem lebt er in einer unserer Context e.V.-Erziehungsstellenfamilien. Mittlerweile ist er acht Jahre alt. Seine leiblichen Eltern haben diverse Therapien gemacht und sind auf dem Wege der Besserung. Sie besuchen ihren Sohn regelmäßig und sind froh, dass er in der Erziehungsstellenfamilie aufwachsen darf. Luca besucht eine Förderschule und besitzt einen Schwerbehindertenausweis mit dem Vermerk H – hilflos.
In den wöchentlichen Terminen mit der Fachberatung berichten die Erziehungsstelleneltern Cordula und Manfred oft von ihrem herausfordernden Alltag mit Luca. Das Ehepaar beschreibt dabei eine eingeschränkte Impulskontrolle bei Luca, er sei oft “super fröhlich“ und dann „bitterböse“, schlage, trete, spucke. Er ist ein hyperaktives Kind, das trotz ausgedehnter Fahrradtouren und Wanderungen kaum müde zu bekommen ist. Eine kleine Mütze Schlaf reicht und Luca ist wieder fit.
Aber was sowohl Cordula, als auch Manfred immer wieder irritiert, ist Lucas Essverhalten. Mal muss er trotz seines Alters gefüttert werden, mal schmeißt er mit Essen um sich und macht es damit unmöglich, dass alle gemeinsam essen können. Innerhalb des Gesprächs mit ihrer pädagogischen Fachberatung können die Erziehungsstelleneltern Cordula und Manfred dieses Thema besprechen und ihren Sorgen Raum geben.
Luca hat einen guten Grund, so zu handeln. Sein zentrales Nervensystem ist geschädigt, er neigt zu unangemessenem Verhalten, und seine Handlungsfähigkeit ist eingeschränkt. Häufig kann er aus Fehlern nicht lernen. Oder er kann auf bereits Gelerntes oder zuvor Gewusstes nicht mehr zurückgreifen.
Oft hilft es den Erziehungsstelleneltern, über ihre Sorgen ausführlich und offen zu sprechen – zum Beispiel mit ihrer Fachberatung, die die Familie regelmäßig besucht. Dabei können u. a. verschiedene pädagogische Ansätze und fachliche Ideen ausgetauscht werden. Manchmal reicht es auch schon, einfach jemanden zum Zuhören zu haben. Das macht den Kopf frei und die Erziehungsstelleneltern können eigene Lösungen für die schwierige Essenssituation finden, die die eingespielte Routine unterbrechen, indem man zum Beispiel ausnahmsweise das Abendessen ins Wohnzimmer verlegt und gemeinsam einen Trickfilm schaut, während gegessen wird. Oder man nimmt das Essen im Stehen ein. Auch eine schöne Idee ist es, ein Buffet zu kreieren, an dem sich jedes Familienmitglied bedienen kann. So können sich zuvor angespannte Situationen durch Kreativität und kleine Veränderungen oder „Musterunterbrechungen“ womöglich entspannen.
Dazu ermutige ich als Fachberatung unsere Erziehungsstelleneltern aktiv. Denn neben der pädagogischen und therapeutischen Arbeit ist es ebenso wichtig, „Familie zu leben“ und mal „Fünfe gerade sein zu lassen“.
Cordula und Manfred schenken Luca alles, was er an guten Entwicklungschancen benötigt: ein stabiles familiäres Umfeld, welches ihm Liebe und Nähe sowie Verlässlichkeit bietet. Und manchmal ist es unsere Aufgabe als Fachberatung, den Erziehungsstellenfamilien ihre Stärken und ihre großartigen Eigenschaften, die sie dem ihnen anvertrauten Kind zu Gute kommen lassen, ins Gedächtnis zu rufen.
Weitere Informationen zum Fetalen Alkoholsyndrom finden Interessierte in einer Publikation der Medizinischen Fakultät Münster.
Was ist das Fetale Alkoholsyndrom?
Erziehungsstellenkind Lina zerstört nach einem schönen Tagesausflug ihr Lieblingskleid und schneidet sich die Haare ab. Welche guten Gründe hat sie für ihr Verhalten?
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26. November 2024
21. August 2024